Einige Zeit danach
gab Siddhartha noch einmal seinem Wagenlenker den Befehl, die schönsten Wagen
für eine Ausfahrt zu den Gärten instand zu setzen. Es war noch Unruhe in ihm
und Neugier, wer ihm auf dieser Ausfahrt begegnen möchte. Kaum hatten sie die
Stadt verlassen, da sah Siddhartha zum ersten Mal in seinem Leben einen
wandernden Bettelmönch. Mit geschorenem Haupt und Bart, mit dem fahlgelben
Gewand bekleidet, schritt der Bettler ruhig und selbstbeherrscht dahin. In
edler Haltung trug er sein Gewand und die Schale. Keine Ungeduld, keine
Einbildung und kein Hochmut schienen in ihm zu sein. Ausgeglichen und leicht
ging er seinen Weg.
Da ließ Siddhartha
seinen Wagen anhalten. Er stieg zu dem Bettler hinunter und redete ihn an.
“Warum bist du anders als andere Menschen? Dein Haupt ist nicht wie bei
anderen, und dein Gewand ist nicht wie bei anderen." “Ich habe mein Haus
verlassen", antwortete der Bettler, “und bin in die Hauslosigkeit
gegangen. Ich gehe mit bloßem Haupt unter dem weiten Himmel, ich trage das fahlgelbe
Kleid der Ausgestoßenen und Kastenlosen."
Als der weise Bettler
das gesagt hatte, flog ein Schwarm von Wildgänsen über sie hin. “Wir
wandernden Bettler", fuhr er fort,
“sind wie die Wildgänse, die heimatlos den Raum durchfliegen, die überall und nirgends
zu Hause sind. Die Wildgans schwimmt auf der Oberfläche des Wassers, ist aber
nicht an das Leben auf dem See gefesselt. Sie fliegen bald nach Norden, bald
nach Süden. Sie durchschweifen die Höhen
des Himmels und lassen sich nieder auf dem See, ganz wie sie wollen, bald hier,
bald dort. So sind auch wir heimatlose, freie Wanderer. Kein Gesetz der Kaste
bindet uns mehr. Die Träume und Ängste der Menschen in ihren Häusern, die an
Macht, Besitz und Ansehen kleben, sind für uns für immer vergangen."
Die Inder nennen die
Wildgans in ihrer Sprache hamsa. Die
beiden Silben des Wortes klingen wie Ausatmen und Einatmen. Die Wildgans ist
für die Inder ein großes Symbol. “Wir leben den Atem der Welt", ergriff
der Bettler noch einmal das Wort. “Ausatmen und Einatmen, daraus besteht jede
Sekunde des Lebens. Das Ausatmen löst und befreit, das Einatmen bedrängt und
presst. Die Menschen denken meist nur an ihre Kastenpflichten, Kastenrechte und
Kastenträume. Das drückt und presst sie im Leben. Sie sind aufgeregt und voller
Sorgen. Sie verstehen die Botschaft der Wildgänse nicht, die als Gleichnis
Gottes unter dem Himmel sind. Gott ist bei allen Menschen und doch frei. Ihnen
fehlt Gelöstheit und Freiheit. Wir aber gehen als Gleichnis Gottes gelöst und
frei durch die Welt. Wir sorgen uns nicht. Wir empfangen in der Bettelschale,
was wir nötig haben. Wenig genügt uns. Dann setzen wir unsere Schritte nach
Norden oder Süden, immer unter dem Himmel. Wir leben, was die Menschen so
leicht vergessen: Was Menschen besitzen, behalten sie nicht. Wir empfangen nur,
um es wieder loszugeben. Bettler sind wir, darum frei."
Vgl. Matthäus 6,26 / 8,20 / 19,29
Paul Schwarzenau in: Gespiegelte Wahrheit. Biblische Geschichten und Kontexte anderer Religionen.
Iserlohner Con-Texte Nr. 18 (ICT 18). Iserlohn 2003, als PDF Datei bearb. 2009 / 2014, S. 49
Iserlohner Con-Texte Nr. 18 (ICT 18). Iserlohn 2003, als PDF Datei bearb. 2009 / 2014, S. 49
Buchhinweis:
Heinrich Zimmer: Indische Mythen und Symbole. DG 33. Eugen Diederichs Verlag 2000, 7. Aufl., 255 S.
Heinrich Zimmer: Indische Mythen und Symbole. DG 33. Eugen Diederichs Verlag 2000, 7. Aufl., 255 S.
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