Samstag, 5. August 2017

Rainer-Maria Rilke: Herbst-Gedichte


                                   H e r b s t

Die Blätter fallen,  
fallen wie von weit, 
als welkten in den Himmeln
ferne Gärten; 

sie fallen mit verneinender Gebärde. 


Und in den Nächten
fällt die schwere Erde 

aus allen Sternen in die Einsamkeit. 


Wir alle fallen.
Diese Hand da fällt. 

Und sieh dir andre an:
es ist in allen. 

Und doch ist Einer,
welcher dieses Fallen 

unendlich sanft in seinen Händen hält. 


Herbsttag
Herr: es ist Zeit. Der Sommer war sehr groß.
Leg Deinen Schatten auf die Sonnenuhren
und auf den Fluren lass die Winde los.

Befiehl den letzten Früchten voll zu sein;
gib ihnen noch zwei südlichere Tage
dränge sie zur Vollendung hin und jage
die letzte Süße in den schweren Wein.

Wer jetzt kein Haus hat baut sich keines mehr.
Wer jetzt allein ist wird es lange bleiben,

wird wachen, lesen, lange Briefe schreiben
und wird in den Alleen hin und her
unruhig wandern wenn die Blätter treiben.


Ende des Herbstes

Ich sehe seit einer Zeit
wie alles sich verwandelt.
Etwas steht auf und handelt
und tötet und tut Leid.

Von Mal zu Mal sind all
die Gärten nicht dieselben;
von den gilbenden zu der gelben
langsamem Verfall:
wie war der Weg mir weit.

Jetzt bin ich bei den leeren
und schaue durch alle Alleen.
Fast bis zu den fernen Meeren
kann ich den ernsten schweren
verwehrenden Himmel sehn.

Aus: Das Buch der Bilder (1902/1906)

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