Sonntag, 20. August 2017

Breisach, Stephansmünster - die Fresken meditieren

Das Paradies: Der Text als Orientierung für den Weg
in die himmlische Glückseligkeit
Die Fresken des spätgotischen Malers Martin Schongauer (1445/1450 - 1491)
im Breisacher Stephansmünster regen zu tieferer Betrachtung an: 

Das Weltgericht an der Westwand, die Nordwand mit der Höllen-Darstellung
und die Südwand mit der
 
 
Paradiesschilderung 
Martin Schongauer hat das geschriebene Wort als Grundlage seines Freskos an der Südwand gewählt. Die Darstellung ist von klarer Ordnung, Licht und Frühlingsstimmung dominieren die Szenerie. Eine große Schrifttafel rechts neben dem Fenster weist auf die himmlischen Freuden hin. Der Text stammt vermutlich aus dem elsässischen Humanistenkreis in Colmar oder Schlettstadt/Sélestat.

       Original                  Übersetzung
Semper erunt quod erant aetern(ae) gaudia vitae
gaudendi quoniam causa erit ipse deus, nec varios pariet
motus diversa voluntas,
unum erit cunctis lumen
et unus amor.

Inque bonis summis posita experientia felix,
Nec v(o)let augeri nec
metuet minui.

Ad patriam vitae de noctis valle vocati
virtutum gradibus
scandite lucis iter!


Gratior est fructus qu(e)m spes
producior edit,
ultro obiectorum (v)il (ius es)t pretium.
Delicias jam nunc promissi concipe regni,
virtute atque fide quod 
cupis esse tene!
Exsulta agnoscens te verbi
in carne renatum:

cujus si pars es,
pars tua Christus erit.
Qui, ne damnandi legeres mala 
gaudia mundi,
promissum ad regnum se tibi
fecit iter.
Immer werden sein, was sie waren, die Freuden des ewigen Lebens,
Weil Gott selbst der Grund der Freude sein wird,
Und kein uneiniger Wille wird unbeständige Gemütsbewegungen hervorbringen:
Ein einziges Licht wird allen sein und eine Liebe.

Und auf den höchsten Gütern gegründete glückliche Erfahrung
Wird weder vermehrt werden wollen, noch fürchten, verringert zu werden.
Ihr, die gerufen seid vom Tal der Finsternis
in die Heimat des Lebens,

Beschreitet auf den Stufen der Tugenden den Weg des Lichts!

Willkommener ist die Frucht, wenn hinausgezögerte Hoffnung sie gewährt,

Geringer ist der Wert von Dingen, die von allein dargeboten werden.
Empfange schon jetzt die Freuden des versprochenen Reiches,
Halte durch Tugend und Glauben das fest, von dem du wünschst, dass es sei.
Freue dich, wenn du erkennst, dass du wiedergeboren bist in der Fleischwerdung des Wortes!
Wenn du Teil von diesem bist, dann wird Christus dein Teil sein.
Dieser hat sich selbst, damit du nicht etwa die bösen Freuden der schändlichen Welt wählst, 
Zum Weg hin zum versprochenen Reich
für dich gemacht.
Auf dem Weg ins Paradies - ungläubiges Staunen

Unterhalb der Inschriftentafel beginnt der Zug der Seligen und führt auf einem steilen Weg durch eine gotische Pforte in den Himmel. Am Anfang des Zuges werden Landleute von einem auf die Tafel zeigenden Engel angeführt; weiter oben schreiten ein Bischof und eine Frau im Nonnenschleier, darüber sind ein Papst und ein Kardinal zu erkennen. 
Das Fenster in der Mitte des Gemäldes trennt die beiden Stände und wahrt damit die mittelalterliche Gesellschaftsordnung. 

Dankbares Ankommen
An der Paradiespforte mit Maßwerkgalerie, Dreipass und Fischblasen sitzen Engel. Die auf der linken Seite begrüßen die Ankommenden mit Lautenklängen, die auf der rechten mit den Noten des Engelsgesangs von Weihnachten „Gloria in excelsis Deo et in terra pax hominibus“ (Text aus Wikipedia: Breisacher Stephansmünster).

Begrüßung an der Paradiespforte durch Engel
auf der linken und rechten Seite


CC





Samstag, 5. August 2017

Rainer-Maria Rilke: Herbst-Gedichte


                                   H e r b s t

Die Blätter fallen,  
fallen wie von weit, 
als welkten in den Himmeln
ferne Gärten; 

sie fallen mit verneinender Gebärde. 


Und in den Nächten
fällt die schwere Erde 

aus allen Sternen in die Einsamkeit. 


Wir alle fallen.
Diese Hand da fällt. 

Und sieh dir andre an:
es ist in allen. 

Und doch ist Einer,
welcher dieses Fallen 

unendlich sanft in seinen Händen hält. 


Herbsttag
Herr: es ist Zeit. Der Sommer war sehr groß.
Leg Deinen Schatten auf die Sonnenuhren
und auf den Fluren lass die Winde los.

Befiehl den letzten Früchten voll zu sein;
gib ihnen noch zwei südlichere Tage
dränge sie zur Vollendung hin und jage
die letzte Süße in den schweren Wein.

Wer jetzt kein Haus hat baut sich keines mehr.
Wer jetzt allein ist wird es lange bleiben,

wird wachen, lesen, lange Briefe schreiben
und wird in den Alleen hin und her
unruhig wandern wenn die Blätter treiben.


Ende des Herbstes

Ich sehe seit einer Zeit
wie alles sich verwandelt.
Etwas steht auf und handelt
und tötet und tut Leid.

Von Mal zu Mal sind all
die Gärten nicht dieselben;
von den gilbenden zu der gelben
langsamem Verfall:
wie war der Weg mir weit.

Jetzt bin ich bei den leeren
und schaue durch alle Alleen.
Fast bis zu den fernen Meeren
kann ich den ernsten schweren
verwehrenden Himmel sehn.

Aus: Das Buch der Bilder (1902/1906)