Montag, 20. Februar 2017

Durch Leid und Schmerz zu neuer Kraft

Gedanken zu einer Predigt über Hebräer 5,7-9
 Jesus hat in den Tagen seines irdischen Lebens intensiv zu Gott gebetet, ja geschrien und bitterlich geweint [das ist die Erfahrung im Garten Gethsemane]. Nur Gott konnte ihm aus den Todesängsten helfen. Er wurde von Gott erhört, weil er sich in Ehrfurcht vor ihm beugte. Obwohl er in seiner Gottesnähe als Sohn privilegiert war, fügte er sich gehorsam in sein Leiden. Als Vollkommener wurde er für alle, die auf ihn hören, zum Urheber ewiger Rettung. 
Diese Verse sind schon ein Vorblick auf die in Kürze beginnende Passionszeit. Sie sind deshalb so beeindruckend, weil wir hier Jesus ganz als Menschen erleben. Und zum Menschsein gehört auch Angst, ja auch schreckliche Angst.
„Alle menschliche Angst ist im Grunde, das heißt, seit der Geburt, Trennungsangst. Angst macht einsam, Angst isoliert, macht sprachlos … Unsere zahllosen Ängste verdichten sich immer wieder zu einer allgemeinen ‚Lebensangst‘. Das ist die gesteigerte, diffuse Angst, die sich ausbreitet, sich verselbständigt und Menschen ihr Selbstvertrauen, ja ihre Identität raubt. Sie kann als ‚Angst vor der Angst‘ bezeichnet werden. Sie wird übermächtig und treibt den Menschen in die Enge, wenn sie nicht identifiziert wird oder wenn sie verschwiegen wird. Dann empfindet der Mensch seine eigene Lage als ausweglos. Er kennt sich selbst nicht mehr … Aus der Angst muss der Mensch ‚gerissen‘ werden. Das ist die Erfahrung des Glaubens in der Angst. In der Erinnerung der Angst Christi ereignet sich und wiederholt sich, was Christus bereits für uns getan hat: er hat die Angst der ‚Gottverlassenheit‘, diese Trennungsangst ertragen und denen den Weg durch sie hindurch gebahnt, die ihm vertrauen und ihm nachfolgen!“
Jürgen Moltmann (geb. 1926): Gotteserfahrungen. Hoffnung, Angst, Mystik.
Kaiser Traktate. München: Kaiser 1986, S. 31f, 42f (Unterstreichungen von mir)
In der Gegenwart gibt es eine Verstärkung dieser diffusen Ängste – vor den Flüchtlingen, vor dem Terrorismus, vor dem Islam, vor der in vielen Bereichen wachsenden Gewaltkriminalität.
Diese Ängste sind ernst zu nehmen. Sie sind oft mit Mutlosigkeit gekoppelt: Manchmal allerdings entwickelt sich daraus auch eine Aggression gegen die Anderen: Gewalt und Hasstiraden in Worten: Facebook und Twitter sind derzeit voll davon, aber auch Politiker aus der eher rechten Szene haben immer weniger Hemmungen. Oft hört man dann noch die seltsame Begründung: Das wird man doch wohl noch sagen dürfen ! Hinzu kommt auch eine immer brutaler werden körperliche unpolitische Gewalt – oft gegen Unbeteiligte. Sogar Polizisten, Feuerwehrleute und Rettungssanitäter werden immer häufiger direkt angegriffen. Das alles können wir derzeit beunruhigend erleben und schürt zusätzliche Ängste.
Aber das ist nicht neu. Schon Jesus erlebte im Garten Gethsemane nicht nur Unruhe, sondern maßlose Verzweiflung. Und doch gibt es dort eine erstaunliche Wendung: Jesus erfährt in der Todesangst offensichtlich eine Kraftquelle und neuen Mut. Im Lukasevangelium heißt es (22,43): „Es erschien Jesus aber ein Engel vom Himmel und stärkte ihn“. Das Seltsame: Gott holt Jesus nicht aus der Verzweiflung heraus, sondern stärkt ihn in der Verzweiflung.
Der Schweizer katholische Theologe, Autor und spirituelle Begleiter, Pierre Stutz (geb. 1963) hat das in einem Buch verdeutlicht, indem er kleine Szenen aus verschiedenen Filmen zusammengestellt hat:

Pierre Stutz: Geh hinein in deine Kraft

50 Filmmomente fürs Leben. Freiburg u.a.: Herder 2016
Aus diesen kleinen oft alltäglichen Filmszenen, die man sich immer wieder anschauen kann, schöpft er den Aufruf: Vertraue in deine Verwandlungskraft.

Die Chancen des Vertrauens zu sich selbst setzt er in sieben Ermutigungen um:
1     1. Bleib bei dir / sammle dich: Wie oft stehen wir täglich in Gefahr,  uns zu verzetteln, also manchmal nicht mehr zu wissen, wo stehe ich eigentlich? Das bedeutet zuerst: Anhalten, Einhalten, wirklich eine Pause machen. Angesichts der alltäglichen Hektik sich vielleicht nur wenige Minuten  in die Stille zurückzuziehen und zu beten. Das macht den Blick wieder frei, auch von mir selbst und öffnet die Augen für den anderen. Im bewussten Da-Sein kann ich mich wirklich dem anderen zuwenden, auch mit ihm mitzuleiden und sein Leben wirklich zu teilen. und zu beten. Beispiel: Flüchtlinge
2     2. Du bist mehr als deine Verletzungen: Es ist die Mahnung, sich nicht immer in der Opferrolle zu sehen, sondern Leid und Schmerz als Chance wahrzunehmen und zu wachsen. Unsicherheit und Verlorenheit sind die Dunkelseite, um das Licht der Auferstehung, des Neubeginns zu verstehen.
     3.  Erwache zum Träumen und geh in Würde deinen Weg!: „Wach auf aus dem Schlaf der Ohnmacht und der Oberflächlichkeit. Lass dich nicht blenden von großen Stars. Entdecke den Kraftstern in dir“, lautet der Weckruf von Pierre Stutz. Sei du selbst und nicht die Kopie irgendeines Medienstars, miss dich nicht an den anderen, die scheinbar alles besser können als du.
4     4. Spiel dich ins Leben hinein: Menschsein ist mehr als Leistung zu bringen. Das bedeutet aber auch, dass weder der Erfolg noch das Scheitern zur Lebensmaxime werden dürfen. Spielen – wie die Kinder das tun, der Blick auf den Spielplatz: Kinder vergessen alles um sich herum und sind ganz bei diesem Spiel.
    5. Wachse am Widerstand: Kaum ein Leben verläuft glatt oder gar nach Plan. Gerade angesichts zerbrochener Hoffnungen, kann ich wachsen und reifen. In einer Welt voller Gewalt brauchen wir einen spirituellen Umgang mit der Lebenskraft der Aggression, um sie in eine positive Kraft umzuwandeln.
6      6. Du darfst scheitern: Geradezu humorvoll hat das der Dramatiker und Literaturnobelpreisträger Samuel Beckett (1906–1989) ausgedrückt: "Immer versucht, immer gescheitert, egal, versuche es wieder, scheitere wieder oder scheitere  besser“!
Beim Scheitern ist es wie beim Leiden, wir sollen es nicht suchen und nicht verherrlichen. Es gibt das Glück der Unvollkommenheit ist uns verheißen, wenn wir verstehen, dass wir auch scheitern können. „Nobody ist perfect“ kann man geradezu heiter und gelassen nehmen.
       7. Sag JA zu deinem Weg, das heißt auch: Versöhne dich mit deinem Weg: Es ist oft schwer genug, sich mit den eigenen Eltern, mit der eigenen Herkunft,  mit Erfahrungen des Ausgegrenztseins zu versöhnen. Aber es ist zugleich die Chance, über sich hinauszuwachsen, den eigenen Schatten nicht als ständige Belastung zu empfinden. Da entsteht ein grundlegendes Vertrauen, das Dietrich Bonhoeffer in einem Gedicht, während seiner Gefangenschaft so enden lässt:
Wer bin ich? Einsames Fragen treibt mit mir Spott.
Wer ich auch bin, Du kennst mich, Dein bin ich o Gott!
Dietrich Bonhoeffer: Widerstand und Ergebung.
Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft.
Hg.: Eberghard Bethge. München: Kaiser 1961, S. 242–243 (16.07.1944)
Der Hebräerbrief sagt genau dieses: Jesus schreit im Garten Gethsemane in seiner Todesnot alle Ängste und Schmerzen heraus, und er wird erhört, weil er sich  trotz allem auf Gott verlässt. Das Ende der Passionsgeschichte Jesu gipfelt beeindruckend versöhnend und versöhnlich am Kreuz. Jesus haucht sein Leben mit den Worten aus: „Es ist vollbracht“.
Sich auf Gottes Vollkommenheit einlassen, 

wird so zu einer Ermutigung für unsere Begrenztheit !

Und der Frieden Gottes, der umfassender und höher ist als unsere Vernunft, unsere Ängste, unsere Verzweiflung und unser Scheitern, dieser Frieden  bewahre uns in der Lebenskraft Christi.

Vgl. Charter of Compassion:
Anregungen für Compassion, Mitgefühl und Empathie im täglichen Leben
  

Relpäd/Hebräer 5,7-9, 20.02.17 
CC